Null Bock, Langeweile, Alleinsein und Alkohol

„Eigentlich begleiteten mich die Gefühle Null Bock und Langeweile seit meiner Kindheit, aber ich war mir derer nicht so wirklich bewusst, sondern fand sie normal. Im Kindergarten und der Grundschule hatte ich eine beste Freundin, aber danach Jahrzehnte nicht mehr. Schon in meiner Jugend durfte ich mich kaum mal mit Schulfreundinnen treffen oder im Jugendheim der Kirche an Feten teilnehmen. Mit Jungs hatte ich gar keinen Kontakt, außer denen, die sich durch die Schule oder meine Brüder und deren Freunde ergaben. Ich war sozusagen die „kleine“ Schwester, die vom Leben wenig Ahnung hatte und in der Freizeitgestaltung sowie dem Umgang mit Menschen nicht geübt war. Meine beiden Brüder durften alles, aber ich wurde als Mädchen „zu Tode behütet“. In meiner gesamten Jugend durfte ich dreimal mit Schulfreundinnen ins Kino und einmal sogar mit meinem gleichaltrigen Bruder und seinen Freunden zu einem Fußballspiel der ersten Bundesliga. Wir waren damals 14 Jahre alt und ich durfte auch nur deshalb mit, weil das Spiel nachmittags stattfand, sodass wir im Hellen wieder zu Hause waren. Drei- oder viermal war ich mit 18/19 in einer Disco, aber auch hier nur deshalb, weil mein älterer Bruder mit seiner Freundin dabei war. Alleine zu gehen, war ein Unding. Zudem war ich mittlerweile schon so sehr daran gewöhnt, meine Freizeit zu Hause oder im Sportverein (Leistungssportlerin in der Leichtathletik, später erfolgreiche Handballerin und ich spielte Squash) zu verbringen, dass ich gar nicht wusste, wie man „das“ macht. Ich war so unbeholfen und unsicher, dass ich schon freiwillig nicht den Wunsch hatte, irgendwo hin zu gehen. Selbst als ich Studentin war, wusste ich anfangs kaum, wie man sich auf Konzerten oder bei Studentenpartys an der Uni oder in Studentenkneipen u.a.m. verhielt. Für mich war das alles Neuland; zumindest war ich ungeübt in der Freizeitgestaltung und dem Aufbau von Sozialkontakten. Letzteres konnte ich gut verstecken. Wirklich Freundinnen hatte ich ab meinem 10-ten Lebensjahr für die nächsten 4,5 Jahrzehnte nicht mehr; es waren eher „Schulfreundinnen“ und später an der Uni Kommilitonen/innen (Mitstudenten/innen), aber keine Menschen, mit denen ich einen gegenseitigen privaten Kontakt gehabt hätte. Ich hatte also seit meiner Kindheit gelernt, das „Anhängsel“ zu sein, das damit beschäftigt war, die eigenen Unsicherheiten zu verbergen.

Ich erinnere mich noch, als ich zur Uni ging. Mein Gott, was war ich im ersten Semester aufgeregt. Die anderen kamen mir alle so cool und souverän vor. Wenn ich vor den Seminar- oder Hörsälen stand, unterhielten sich die anderen miteinander. Ich stand nur da, fühlte mich beobachtet und wartete darauf, endlich eintreten zu können. Gott sei Dank, denn jetzt waren wir alle wieder gleich. Jeder hörte zu, schrieb mit, rauchte seine Zigarette (damals war das noch erlaubt) und ich hatte für 90 Minuten meine innere Ruhe.

Es dauerte nicht lange und ich erhielt von den Professoren, Doktoren und studentischen Hilfskräften sehr positive Rückmeldungen und Zustimmungen, was meine Wortbeiträge, Fragestellungen und Leistungen betraf. So wurden dann auch die anderen Studenten/innen auf mich aufmerksam. Meine Referate waren bei ihnen sehr beliebt, weil ich sie verständlich, mit guten Beispielen und auch mit ein wenig Witz vortrug. Der ein und andere suchte Schritt für Schritt den Kontakt zu mir. So stand ich also nicht mehr nur blöd herum, sondern hatte Gespräche. Zunehmend mehr setzte man sich auch in der Cafeteria neben mich oder winkte mich herbei und wir unterhielten uns über alles Mögliche. Die Prüfungen, Klausuren, Hausaufgaben machte ich mit Links, bekam gute und sehr gute Noten und erhielt wirklich immer meine „Scheine“, ohne zuvor noch Diskussionen zu haben. Das machte auf die anderen Studenten/innen mächtigen Eindruck.

Da ich kaum den „schönen Teil des Studentenlebens“ lebte, denn so freundschaftlich entwickelten sich meine Kontakte zu den anderen Studenten dann auch wieder nicht, war ich fast nur in meiner  Wohnung oder Bibliothek, lernte, schrieb die Hausaufgaben u.a.m. Nur ab und zu war ich mal mit anderen unterwegs. Dies war ich aber fast ausnahmslos nur deshalb, weil ich sie gefragt hatte, ob ich mitgehen konnte, nicht aber, weil sie mich darum gebeten hätten. Insofern blieb ich das „Anhängsel“ und akzeptierte es, war ich darin ja nun mehr als geübt. Und da ich das nie anders kannte, machte es mir auch nichts aus. Ich hatte nicht den Eindruck, in meinem Leben etwas zu verpassen, denn dieses Gefühl war „stillgelegt“. Ich war also eine von meinen Professoren und Doktoren hochgeschätzte Studentin, die sehr erfolgreich ihr Studium beendete, gleich von zwei Professoren das Angebot für eine Doktorarbeit erhielt, aber im Aufbau von sozialen Kontakten und Freundschaften, wie auch in der Gestaltung meiner Freizeit war ich die größte Niete, die man sich vorstellen konnte – und letztendlich bin ich die bis heute.

Wenn ich mir so das Leben der anderen Menschen ansah, gingen die einen mal ins Theater, die anderen waren auf einer Party, der nächste ging zu einem Konzert und wieder andere fuhr viel mit dem Rad oder ging regelmäßig spazieren, waren in einem Verein, usw. Aber so wirklich aufregend fand ich das alles nicht. Ich sah keinen wirklichen Unterschied zu meinem Leben, obwohl ich all diese Aktivitäten gar nicht unternahm. Ich saß in meiner Wohnung, schaute Fern, las Bücher, beschäftigte mich viel mit dem Internet, interessierte mich für die aktuelle (Welt-)Politik, aber das war es auch schon.

Kam mir der Gedanke, mal raus zu gehen, fragte ich mich, was ich davon hätte und fand keinen aufbauenden Grund. Also blieb ich daheim. Partys hatte ich schon viele miterlebt, aber, was lief da denn wirklich ab? Man unterhielt sich, redete, diskutierte, lachte über unsinnige Sachen, … Wenn ich dann nach Hause fuhr, fragte ich mich oft, was ich nun davon hatte. Jeder ging wieder seiner Wege, lebte sein Leben, ging arbeiten, usw. Vereinsleben kam für mich nicht in Frage. Das war mir zu viel Verpflichtung, was meinem Drang nach Freiheit widersprach. Ins Sportstudio zu gehen, um mich endlich wieder ein wenig körperlich zu bewegen, war auch nicht mein Ding. Irgendwie war gar nichts mein Ding. Gegen alles und jedes hatte ich Einwände oder Bedenken oder einfach Null Bock.

Ich hatte da einen „Teufel“ in mir, der mir einfach alles madig redete. Gegen alles gab es genügend Argumente, die mich auf meinem Sofa sitzen ließen. Gleichzeitig hatte ich aber auch das erdrückende Gefühl, dass mein Leben an mir vorbeilief und ich mit heute Mitte 40 das Leben eines 90-jährigen führte. Dass dies aufhören musste, war mir schon VIELE Jahre bewusst, aber mein bisheriges Denken und Handeln zu unterbrechen, schien mir unmöglich zu sein.

Ich konnte mich zu rein gar nichts SELBER motivieren. Und auch jede alltägliche Anstrengung (Wohnung zu putzen, einkaufen zu gehen, andere Verpflichtungen wahrzunehmen, …) war mir jedes Mal genau eine Anstrengung zu viel. So lernte ich den Alkohol kennen. Wenn ich davon trank, war mein Leben wieder in Ordnung. Nichts störte mich mehr, ich fühlte mich wohl, hatte keine erdrückenden Gefühle, wurde müde, konnte gut schlafen und ALLES war EGAL! SCHÖN!!!

Doch damit hatte ich mir ein neues Problem geschaffen. Auch das noch! Ich fühlte mich wie in einem Teufelskreis: meine beruflichen Verpflichtungen erfüllte ich mit viel Aufmerksamkeit und Interesse, aber alles andere ließ ich laufen.

Inzwischen doch eine sehr gute Freundin gefunden, halfen sie und ihr Mann mir dabei, meinen Kellerraum und die Garage leer zu räumen sowie meine Wohnung wieder in Ordnung zu bringen. Die war nun wahrlich nicht verwohnt und ein Messi war ich auch nicht, aber einer Grundreinigung bedurfte sie durchaus. Abheften war mir schon immer ein Graus, sodass auch dies erledigt wurde.

An alle dem erkannte und fühlte ich, dass mit mir so einiges nicht mehr stimmte. Ich verschleuderte mein Leben, erfreute mich an kaum etwas so wirklich und hatte keine anhaltende Motivation, irgendetwas zu ändern, obwohl ich gleichzeitig fühlte, dass mein Leben der größte Mist war. Ich beneidete immer mehr andere Menschen, die ihrem Leben einen Sinn gaben und wusste für mich selbst nicht mehr weiter. Lediglich mein Studium verhalf mir dazu, dass ich bis heute sehr schnell Kontakt zu anderen Menschen bekomme. Wenn mich heute ein Dritter „anstupst“, mache ich GERNE und ALLEN Spaß mit! Andere Menschen unterhalten sich wirklich gerne mit mir, melden mir zurück, dass es mit mir überaus kurzweilig ist, ich ein interessanter, freundlicher und herzlicher Mensch bin, den man gerne um sich hat und anderes mehr. Ich bin also kein muffeliger, vergrämter Mensch. Ich weiß nur nicht, SELBER meinem Leben einen Sinn zu geben, ein Hobby zu haben, Kontakte aufzubauen und zu halten. Dieser „Teufel“ in mir ist wahrlich sehr mächtig und wird immer nur durch Dritte „besiegt“, NIE aber durch mich selbst! Kann mir das bitte mal jemand erklären, so als wäre ich 5 Jahre alt?“