Ich wurde als Kind sexuell missbraucht

„Als ich 10 Jahre alt war, ging ich mit unserem Dackel spazieren. Auf dem Weg zum Park merkte ich, dass mir ein Mann mit einem Fahrrad fußläufig folgte, machte mir darüber aber keine Gedanken. Merkwürdig kam es mir erst vor, als ich den Park betrat und dieser Mann mir immer noch folgte. Da unser Dackel sein Geschäft machen musste, ging er an mir vorbei. Daher war ich wieder beruhigt. Als ich dann aber wieder weiter ging, sah ich ihn hinter einem großen Baum stehend. Mir kam es so vor, als würde er dort urinieren. Also ging ich weiter, bis genau dieser Mann mich von hinten ansprach, am rechten Arm besthielt, mir mit der linken Hand unter meinem Rock in die Hose griff und mich an meinem Geschlechtsteil „vergriff“. Ich war wie versteinert, dachte an die Sendung „XY ungelöst“, und dass ich nun selber dran war. Ich merkte mir jede Kleinigkeit. Er öffnete einhändig seine Hose, zeigte mir seinen Penis und meinte, dass man damit schöne Spielchen machen könnte. Als er mich versuchte, in die Büsche zu ziehen, rannte ich weg. Ich spürte noch, wie er versuchte, mich an meinem Slip festzuhalten, doch das gelang ihm nicht. Ich rannte so ca. 50 Meter weiter auf die rechts liegende große Wiese, rief permanent „Hilfe, Hilfe“, rannte auf einen alten Mann zu, der linksseitig auf einer Bank saß und eine Bierflasche vor sich auf dem Boden stehen hatte. Zuerst dachte ich, dass diese beiden Männer zusammen gehörten, aber dann entschied ich mich doch, auf ihn zuzulaufen. Ich kann gar nicht beschreiben, was in dieser Situation alles durch meinen Kopf ging – es war furchtbar! Der alte  Mann stand auf, kam auf mich zu und fragte, was passiert war. Ich setzte mich mit ihm auf die Bank und er zeigte mir seinen Personalausweis. Seine Adresse konnte ich nachher der Polizei benennen. Als der Mann ein klein wenig von meinem Erlebnis gehört hatte, sagte er sogleich, seine Bierflasche diesem Mann über den Kopf zu schlagen, wenn wir ihn jetzt sähen. Mir war zwar immer noch sehr unwohl mit ihm, aber er war der einzige, der mir jetzt helfen konnte. Als wir am Ort des Geschehens angekommen waren, saß dort unser Dackel - ich hatte wohl vor lauter Schreck die Leine losgelassen -, aber der Mann war weg. Nun schlug mir der alte Mann mit der Bierflasche vor, mich nach Hause zu bringen, aber das wollte ich nicht. So verabschiedete ich mich von ihm, nachdem wir aus dem Park heraus waren. Ich ging die ca. 300 Meter alleine nach Hause – der Mann verfolgte mich nicht – und Mama merkte sofort, dass etwas geschehen war. Mir stand der Schock wahrscheinlich immer noch im Gesicht geschrieben. So erzählte ich ihr, was ich erlebt hatte. Sofort rief sie Papa im Büro und danach die Polizei an. Letztere war innerhalb von ca. 10 Minuten da und wollten von mir nun genau wissen, was passiert war. Ich selbst war aber gar nicht in der Lage, ihnen alle Einzelheiten zu erklären, was sie akzeptierten. Noch in unserem Wohnzimmer forderten sie mehrere Polizeiautos an, die um und in den Park fahren sollten, denn ich konnte diesen Mann und sein Fahrrad genauestens beschreiben. Anschließend nahmen sie mich mit. Wir fuhren um den Park herum und erhielten sehr schnell den Funkspruch, dass man einen Mann gemäß meiner Beschreibung gefunden hatte. Also fuhren wir dort hin und tatsächlich, er war es. Er wurde sofort festgenommen, ich wurde wieder nach Hause gefahren und dort warteten meine Mutter und ich auf den Kommissar, der uns zur Polizeiwache fuhr. Als ich auf der Wache war, musste ich meine Aussage machen. Gott sei Dank, hatte ich eine Beamtin, die ein sehr großes Feingefühl bewies. Es stellte sich heraus, dass die Polizei genau diesen Mann schon länger suchte, denn ihm wurden drei weitere Sexualdelikte mit Kindern vorgehalten. Ich erinnere mich noch gut, dass ein Polizeibeamter mich für meine sehr gute Beobachtungsgabe lobte und auch dafür, dass ich meiner Mutter sofort erzählt hatte, was geschehen war; dies war in den anderen drei Fällen nämlich nicht so, weil diese Mädchen sich schämten und glaubten, Ärger mit ihren Eltern zu bekommen.    

Vier Monate später war die Gerichtsverhandlung. Dort traf ich die anderen drei Mädchen, die ebenfalls ihre schrecklichen Erfahrungen mit diesem Mann gemacht hatten. Wir alle mussten aber gar nicht mehr aussagen, weil der Mann seine Taten gleich zu Beginn der Verhandlung gestanden hatte. Da es kurz vor Weihnachten war, gingen meine Eltern und ich anschließend noch über den Weihnachtsmarkt, um mich wieder auf andere Gedanken zu bringen. Ich aß einen kandierten Apfel und bekam eine große Tüte voll mit gebrannten Mandeln. Lecker! Über unseren Anwalt erfuhren wir, dass der Mann zu drei Jahren Haft verurteilt wurde, die auf die 4 Monate Untersuchungshaft drauf kamen. Wegen guter Führung wurde er nach zwei Jahren entlassen und zog sogleich nach Stuttgart zu seiner Schwester um. Seine Ehefrau hatte sich inzwischen von ihm scheiden lassen.

Das ganze geschah in meinen Sommerferien. Eine Woche später fuhr unsere Familie für drei Wochen an die Nordsee. Mein Vater war damals FKK-Fan und so musste auch ich mich ausziehen. Das war mir total unangenehm. Ich wehrte mich in den ersten Tagen dagegen, konnte mich aber nie durchsetzen und so war ich täglich damit befasst, mir nichts anmerken zu lassen. Ich wollte einfach nicht mehr hören: „Ach, jetzt stell´ dich doch nicht so an. Glaubst du, dir guckt jemand etwas weg? Bei dir gibt es doch noch gar nichts zu gucken.“ Dies ließ meinen älteren Bruder stets laut lachen. Ich fühlte mich so gedemütigt und so unverstanden, aber damals hatte man das heutige Feingefühl für Kinder noch nicht. Auch die Psychologie war damals noch ein Bereich, der nur ganz rudimentär existierte und erst recht nicht für Kinder. Also hatte ich keinen, dem ich mich mit meinen Gedanken und Gefühlen anvertrauen konnte. Viele Jahrzehnte ging ich abends nirgendwo mehr alleine hin. In Tiefgaragen, auf Parkplätzen, in Grünanlagen, …, also überall dort, wo nicht viele Menschen gleichzeitig sind, fühlte ich mich unwohl. Ständig schaute ich mich um, beobachtete Männer, die mir entgegen kamen und konnte es nicht ertragen, wenn ein Mann hinter mir lief oder stand.

Als mein Busen anfing zu wachsen, registrierte dies natürlich auch mein Vater. Gerne streichelte er mal ganz kurz darüber. Wenn ich ihm sagte, dies doch endlich mal sein zu lassen, kamen vergleichbare Sprüche, wie oben schon genannt. Mich widerte dieses Verhalten immer mehr an, doch ich hatte keinen, der mir half. Selbst meine Mutter reagierte nicht und wenn, dann unterstützte sie eher Papa. Und wieder war es auch mein älterer Bruder, der „ins selbe Horn blies“. Zunehmend mehr bekam ich den Eindruck, dass Frauen für Männer reine Sexualobjekte sind und Männer nur „durch die Hose denken“. Schrecklich! Was für ein niederes Denken, Fühlen und Verhalten. Was für eine Respektlosigkeit und wie triebgesteuert doch Männer sind. Ekelhaft!

Im jungen Erwachsenenalter hatte ich zwei Mal über längere Zeit einen Freund (1-1,5 Jahre) und wir lebten auch die Sexualität, aber eigentlich wollte ich das gar nicht. Mir machte das einfach keinen Spaß. Was war nur so toll am Sex? Für mich wurde der überbewertet. Oder liebte ich den jeweiligen Mann zu wenig? Fest stand, dass ich Sex nicht brauchte. Mit Männern zu tanzen, Spaß mit ihnen zu haben, mal kurzzeitig in den Arm genommen zu werden, all das war inzwischen kein Problem mehr, Aber Sex war für mich out! Und Sex fing bei mir schon dort an, wo Männer meinten, mit mir mal kuscheln zu wollen.

Ich hatte das Ereignis im Park und wie meine Eltern anschließend damit umgegangen waren, so dermaßen negativ abgespeichert, dass mein Interesse auf sexuelle Beziehungen auf null gestellt war. Männer waren für mich absolut triebbestimmte Menschen, die, wenn sie Frauen sehen, nur noch daran denken, ob sie sexuell begehrlich sind oder nicht. Was für ein niederes Gefühlsleben! Was für ein egoistisches, rein sexuell bestimmtes Denken und Fühlen, ABARTIG! Die Vorstellung, dass ich auf die sexuelle Begehrlichkeit reduziert wurde, war mir zu wider! Wie hieß es mal in einem Song: „Männer sind Schweine.“

Natürlich sind nicht alle Männer so. Ich kenne durchaus auch Männer, die sich sehr respektvoll und einfühlsam gegenüber mir oder anderen Frauen verhalten. Ein Problem bekam / bekomme ich heute aber immer noch dann, wenn der Mann an mir als Frau ein Interesse hat, dass ich ihm gegenüber aber gar nicht habe. Genau dann kommt in mir das Gefühl auf: Männern geht es vornehmlich darum, dass die Frau für sie attraktiv aussieht, gut im Bett ist und Frauen auf ihr Äußeres reduziert werden. Immer spielt der Sex eine für die Männer überaus große Rolle, ohne sich damit zu befassen, wie anders Frauen Sexualität bewerten und leben, denn da gibt es, zumindest rein statistisch, einen erkennbaren Unterschied.

Hinzu kam mein Onkel, der mich attraktiv fand und wieder suchte ein Mann bei mir nach Sex. Mein Gott, wie triebhaft und geil doch Männer sind.

Wie auch immer man das bewertet, ich ging zu Ellen, um mein Thema mit Männern endlich wieder positiver gestalten zu können. Mir ging es nicht darum, eine neue Partnerschaft eingehen zu können, sondern darum, dass ich nicht jedes Mal, wenn ein Mann mich begehrte, sofort den „Rückwärtsgang“ einlegte.

Durch viele, sehr einfühlsame und verständnisvolle Gespräche erkannte ich, warum mir der sexuelle Missbrauch so oft wiederfuhr: Ich suchte nach Liebe und Anerkennung und dachte, beides zu bekommen, wenn ich machte, was von mir erwartet wurde.  

Ellen übte mit mir in Form verschiedenster Methoden und Massagen, mein Körpergefühl positiv zu verändern. Langsam, aber sicher, erlernte ich ein grundsätzlich souveräneres Auftreten, was sich auch verändernd auf mein Männerbild auswirkte. Ich lernte durch verschiedenste Situationsnachstellungen und Rollenspiele, überzeugt „Stopp“ und „Nein“ zu sagen und dennoch ein wenigstens neutrales Bild gegenüber Männern zu entwickeln. Verschiedenste „Situationslegungen“ mit unterschiedlichen Materialien machten mir die Verstrickungen deutlich, in denen ich steckte und wie ich aus diesen endlich wieder herausfinden konnte. Ich wurde mir endlich wieder bewusst darüber, was ich selbst will, welche Bedürfnisse ich habe und wie ich diese erfüllt bekommen kann. Letztendlich stand fest: Sexualität brauchte ich nicht. Was ich suchte, sind Menschen, die mich mit großem Respekt behandeln, unabhängig davon, welches Geschlecht diese Menschen haben. Ob sich daraus ggf. doch eine sexuelle Beziehung entwickeln könnte, bleibt einfach abzuwarten. Derzeit ist das aber nicht mein Ziel. So fühlt es sich für mich im Moment gut an und meine Gedanken haben sich gänzlich verändert. Danke dafür!"