Auf eigenen Beinen stehen

"Ich bin 19 Jahre alt, habe vor wenigen Monaten mein Abitur gemacht und studiere jetzt. Dennoch fühle ich mich - streng genommen - lebensunfähig. Ich weiß einfach nicht, wie ich auf eigenen Beinen stehen soll, denn solange ich noch zu Hause wohnte, wurde mir jede Entscheidung abgenommen. Mutter machte und Vater regelte für mich alles, egal, worum es ging. Mit 18 Jahren kauften mir meine Eltern einen gebrauchten 3er BMW, der mehr als all das hatte, was ein Auto brauchte. Wir machten als Familie die schönsten Urlaube und die Mädels himmelten mich an, sodass ich sie mir aussuchen konnte.  Wer meinem Lebensstandard nicht entsprach, mit dem hatte ich nichts zu tun. Ich war also sozusagen ein absolut verzogenes, verwöhntes „Blach“ und strotze vor Selbstgefälligkeit und Hochmut. Doch nun stand ich vor der bisher größten Herausforderung meines Lebens, deren Umgang ich auch in der Schule nicht gelernt hatte.  

Alles begann damit, mich selber ein Jahr vor meinem Abitur um die Anmeldebedingungen an der Universität Köln (624 km von zu Hause entfernt) zu informieren. Ich fuhr also alleine mit dem Zug nach Köln,  wusste überhaupt nicht, wo ich hin musste und war total aufgeregt. Nach vielen, vielen Fragen und endlosen Fluren stand ich endlich vor dem Anmeldebüro. Gott sei Dank traf ich eine sehr freundliche und hilfsbereite Sekretärin. Sie gab mir ein Informationsblatt mit, auf dem alles stand, was ich an Unterlagen vorlegen musste und welche Schritte von mir zu gehen waren.

Ich informierte ich mich auch danach, wo ich in Köln wohnen könnte und wie teuer das war. Natürlich waren diese Fragen nicht „auf meinem Mist gewachsen“, sondern die gaben mir meine Eltern mit auf den Weg. Ich erfuhr von der Sekretärin, dass es in den Studentenwohnheimen winzige Ein-Zimmer-Apartments mit Etagenküche gab. Ich könnte mich auf eine Warteliste setzen lassen, hätte aber keine Garantie, im nächsten Jahr dort ein Zimmer zu bekommen. Jetzt war guter Rat teuer. Die Sekretärin gab mir daher ein paar Tipps, wie ich in Köln evtl. an eine möblierte Einraumwohnung mit Bad kommen könnte, machte mir aber auch hier keine wirklichen Hoffnungen. Sie empfahl mir, ein Zimmer zu suchen, das außerhalb von Köln privat und möbliert vermietet wird. Das hieß, ich hatte einen langen Anfahrtsweg zur Uni, benutzte das Bad und die Küche der Familie mit, durfte abends - und dies evtl. auch nur in Absprache mit dem Vermieter – Freunde zeitbegrenzt einladen, keine laute Musik hören, u.s.w. Das war ja fast wie zu Hause – nein, es war deutlich schlimmer. Also kam das für mich auf keinen Fall in Frage. So hatte ich mir mein Studentenleben nicht vorgestellt. Als die Sekretärin mir die Mietpreise nannte, fiel ich bald hinten rüber. Die zu bezahlen, ging tatsächlich nur MIT Unterstützung meiner Eltern. Eher enttäuscht fuhr ich nach Hause. Mein Vater lächelte, legte mir  väterlich einen Arm um meine Schulter und sagte: „Junge, ich mach das schon.“ Mein Vorsatz, ohne meine Eltern klar zu kommen, war dahin. Andererseits war Paps Hilfen sehr entlastend für mich. Eine Sorge hatte ich dadurch nämlich weniger.  Also erkundigte sich Papa nach möblierten Zimmern im Umkreis von Köln, rief dort an, machte Besuchstermine aus und wir drei fuhren gemeinsam dort hin.  Auf dieser Fahrt hatte ich irgendwie das Gefühl, wie ein kleiner Junge zu sein, der noch am Rockzipfel der Eltern hing. Aber es war auch sehr bequem. Da Papa die Unterkunft bezahlen musste, redete ich mir ein, dass er damit auch das Recht hatte, zu sehen, wofür er sein Geld hergeben sollte. Ich hing also gar nicht am Rockzipfel. Mit diesem Gedanken ging es mir gleich viel besser und ich  konnte alles Weitere gut geschehen lassen.

Letztendlich an der Uni Köln eingeschrieben war ich sogar Mieter einer kleinen Wohnung, statt eines möblierten Zimmers. Doch ich wusste nicht, wie man kocht: Wie hatte ich z.B. welches Gemüse zu verarbeiten? Welche Gewürze brauchte ich in welchen Mengen bei welchen Gerichten? Wie machte ich eine Salatsauce, wie einen Nudelauflauf, den ich so gerne aß? Die Frage nach dem Kochen stellte sich für mich vor allem am Wochenende, weil die Mensa geschlossen hatte. Und ich war ja, wegen der langen Fahrtstrecke nach Hause, auch nur alle 4 Wochen bei meinen Eltern.

Dort angekommen, gingen Mama und ich samstags zum Diskounter, wo ich mir auf ihre Kosten alles einkaufen durfte. Sie hatte in der Woche zuvor bereits vorgekocht und vorgebraten. Z.B. Frikadellen, Schnitzel, Rouladen oder Rinderbraten. Auch Fleisch- und Salta-Saucen hatte sie schon zubereitet, backte mir samstags frischen Kuchen, kaufte frischen Salat für mich ein, den ich auf jeden Fall noch Montag essen konnte, usw. All das verpackte mir Mama in unterschiedlich großen Plastikbehältern, die ich dann in drei großen Tiefkühlboxen mit nach Köln nahm. Ich nahm jedes Mal so viel mit, dass ich damit nicht nur die nächsten 3 Wochenenden auskam, denn, wie gesagt, am Vierten war ich ja wieder zu Hause. Bei Mama das Kochen zu lernen, lehnte sie ab. Die wahrlich wenige Zeit, die sie mit mir hatte, wollte sie nicht mit mir am Herd verbringen. Und das, was ich mitnahm, konnte sie unter der Woche vorbereiten und einfrieren.

Eine andere Unselbständigkeit bezog sich auf die Wäsche. Wie wäscht man welche Art von Wäsche und bügelt sie? Ich hatte noch nie in meinem Leben eine Waschmaschine bedient, geschweige denn ein Bügeleisen benutzt. Die Lösung des Problems bestand darin, dass ich meine Wäsche alle 4 Wochen mit zu meinen Eltern nahm und Mama mir übers Wochenende alles sauber machte. Auch hier meinte sie, dass die Waschmaschine keine Arbeit macht und das bisschen Bügeln nun wahrlich nicht die Welt für sie war. Also lehnte ich mich auch hier weiterhin zurück, während Mama sich kümmerte – oder soll ich, wie auch beim Kochen, besser sagen, sich kümmern wollte? 

Ein Problem blieb aber: Mein Vermieter machte mir Ärger, weil ich die Musik zu laut hörte. Ich sollte mir Kopfhörer aufsetzen. Außerdem würde ich spät abends die Haus- und Wohnungstüre zu laut schließen. Und ich müsste mal dringend und endlich die Fenster putzen. Den Treppenflur hätte ich ebenfalls noch nie wirklich gereinigt. ... Es kam so viel Verantwortung auf mich zu, dass mir der Kopf schwirrte. Und vor allem die viele Zeit, die damit verbunden war! Das war ich bisher gar nicht gewohnt und darüber hatte ich mir bisher auch nie Gedanken machen müssen, weil ja Mama alles tat. O.k., die Türen leise zu schließen und Kopfhörer aufzusetzen, war nicht das Thema. Aber Fensterputzen? Das  hatte ich in meinem Leben noch nicht gemacht. Meine ersten Versuche scheiterten kläglich. Die Fenster sahen danach schlimmer aus, als vorher. Also musste ich wieder einmal Mama fragen, denn die Scheiben mussten nicht nur sauber, sondern vor allem auch streifenfrei sind; darüber beklagte sich nämlich die Frau meines Vermieters. Oh je, auf eigenen Beine zu stehen und möglichst alles richtig zu machen, war echt schwer. Meine Eltern hatten mir stets alles aus der Hand genommen, mir nichts gezeigt, was für mein Leben - allein nur im Kleinsten - wichtig war und ist. Mit der Zeit wurde ich dann aber doch ein recht annehmbarer „Hausmann“. Mein Vermieter und ich verstanden uns immer besser. Letztendlich, d.h., nach Monaten, luden er und seine Frau mich zu sich ein. Wir hatten einen schönen Abend. Er gab schmunzelnd zu, seine Kritiken gar nicht so böse gemeint zu haben. Seine Frau und er hatten schon gemerkt, dass ich noch viel zu lernen hatte. Sie wollten mir das aber nicht abnehmen, sondern ich sollte selber aus den Erfahrungen heraus lernen. Die Geduld, die ihrerseits dafür nötig war, hatten die beiden wirklich.  

Unabhängig von diesen tollen Vermietern, die mich ein stückweit in meine Selbständigkeit führten, waren mir viele banalste Fähigkeiten fremd. Also telefonierte ich fast täglich mit meinen Eltern. Über all meine Lebensbelange informierte ich sie. Ich tat das deshalb, um für mich selber Sicherheit in meine Eigenständigkeit zu bekommen. Die Rückmeldungen meiner Eltern waren mir wirklich wichtig. Natürlich war nicht jede meiner Entscheidungen die beste. So kam es öfter vor, dass mein Vater für mich mal wieder alles regelte bzw. rückgängig machte. Das ging eine Zeit lang gut, doch ich fühlte relativ schnell, dass ich das nicht mehr wollte. Ich wollte eigentlich und endlich auf meinen eigenen Beinen stehen und meine Entscheidungen selber, sicher und richtig treffen können.  Ich fand meine Situationen zunehmend demütigend und fühlte mich letztendlich auch durch meine Eltern bevormundet. Gleichzeitig war es für mich aber auch sehr entlastend und beruhigend, wenn Papa und Mama sich um wirklich alles kümmerten.

Da hatte ich nun mein Abitur und dadurch viel Wissen über wissenschaftliche Theorien, studierte, aber war völlig unselbständig, mein eigenes Leben eigenständig zu führen. Was mir half, waren meine Studienfreunde. Den meisten ging es nämlich ähnlich. Ich war also nicht der einzige Unfähige, aber gemeinsam konnten wir uns helfen und uns die notwendigen Informationen verschaffen. Das war zumindest der erste Weg, nicht immer wieder meine Eltern anzurufen. Doch so wirklich befriedigend war dieser Weg für mich ebenfalls nicht.

Mich machte meine Situation zunehmend unzufriedener. Ich wollte endlich ICH sein und kein Abbild der Meinung meiner Eltern und Freunde. Zunehmend mehr konnte ich schlecht schlafen, fühlte mich klein und winzig. Ich war es endgültig Leid, auf das zu hören, was andere mir sagten oder empfahlen, sondern wollte endlich frei sein. Frei von allen anderen Meinungen und damit endlich ich selbst sein. Gleichzeitig war da aber auch dieses schöne Gefühl, wenn ich mich in meine Bequemlichkeit zurückfallen ließ. Ich genoss es durchaus, mich immer mal wieder als unwissend und nicht könnend zu präsentieren, sodass Dritte meine Belange regelten. Das war überaus chillig und ich trug keine Verantwortung. Hatte ich tatsächlich immer noch nicht erkannt, oder wollte ich es noch nicht erkennen, in welchen Bereichen ich durchaus auf eigenen Beinen stand? Ich wusste es nicht. Hatte ich immer noch nicht verstanden, in welche Abhängigkeiten ich mich brachte, obwohl ich sie gleichzeitig ablehnte? War mein innerer Schweinehund tatsächlich weiterhin so groß, dass ich mich in meine alten Verhaltensstrukturen immer noch gerne zurückzog? Inzwischen 20 Jahre alt, sollte ich das eigentlich ändern. Aber meine Bequemlichkeit und die Abgabe von Verantwortung siegen nach wie vor.“